Nur wenige Menschen schaffen in ihrer Lebenszeit einen
Eintrag in die Geschichtsbücher, sei es
durch neue Erkenntnisse in der
Wissenschaft und Forschung, durch Leistungen in Philosophie und Literatur, oder
dadurch, dass sie irgendwann durch Politik den Lauf der Weltgeschichte gut oder
schlecht beeinflussten.Da dies auf die Mehrzahl der Menschen nicht zutrifft, geraten
diese ziemlich bald nach ihrem Lebensende in Vergessenheit. Im Folgenden will
ich den Versuch unternehmen, dieser Gesetzmäßigkeit dahingehend
entgegenzuwirken, indem ich die Lebensgeschichte meiner Großmutter, soweit sie mir
in Erinnerung geblieben ist, für die Nachwelt zu erhalten versuche. Die
Beschreibung stützt sich teilweise auf meine persönlichen Erlebnisse, zum
anderen Teil auf ihre Erzählungen aus einer lange zurückliegenden Zeit, die
nicht meine war.
1889 wurde sie geboren in einer Stadt, die man damals Fiume nannte. Italienisch war
dort die häufigste Umgangssprache, obwohl die Stadt politisch zu Ungarn
gehörte. Deshalb besuchte sie nach dem Ende ihrer Pflichtschulzeit eine
Lehrerinnenbildungsanstalt in einer Stadt, die man damals Maria Theresiopel nannte, wo sie die ungarische Sprache
erlernen musste. Weihnachten konnte sie nur dann nach Hause fahren, wenn die Donau nicht gefroren war. Offensichtlich gab es damals dort noch keine Brücken. Deutsch dürfte sie von ihrer Mutter gelernt haben, die aus der
Steiermark stammte. Und kroatisch wurde in Fiume ebenfalls gesprochen, aber
ihre Primärsprache, in der sie tagtäglich ihr Geld zu zählen pflegte, blieb
zeitlebens italienisch.
Ihre spätere Jugendzeit verbrachte sie dann in einer Stadt,
die man damals Pola nannte
und wo sie wohl irgendwann meinem Großvater, der dort als Marineoffizier
eingesetzt war, über den Weg lief. Doch diese Zeit ging bald zu Ende und mit
Ihr auch das alte Österreich und das alte Ungarn und damit auch zwangsläufig
die Marine. Deshalb machte sich mein Großvater auf die Reise in seine alte
Heimat um dort die Grundlage für den Aufbau einer neuen Existenz und die
Gründung einer Familie zu suchen, während meine Großmutter alleine in Pola
zurückblieb. Fast ein Jahr soll sie kein Lebenszeichen von ihm vernommen haben;
stattdessen kursierten immer wieder Gerüchte über Gefangennahmen oder sogar
Ermordungen. Aber schließlich kam er doch wieder mit der frohen Botschaft, in
der alten Heimat ein Haus erworben zu haben. Also transportierten sie ihre
gesamte Habe zum nächstgelegenen Bahnhof, wo sie sich einen Güterwaggon
reserviert hatten, mit dem sie die Reise antraten. Der Zug soll 14 Tage
unterwegs gewesen sein – für eine Wegstrecke, die man in der heutigen Zeit in
weniger als 5 Stunden bewältigen kann.
Nun aber will ich einen Zeitsprung vornehmen bis zu jener
Zeit, an
Triestina, wie auch das Brodetto mit Polenta.
Eine ihrer besonderen Eigenschaften war es, sich anders als
andere Menschen nicht an die positiven, sondern überwiegend an die negativen
Erlebnisse zu erinnern – und davon gab es in ihrer Lebenszeit
bedingt durch die
beiden Weltkriege wohl genug. Und deshalb war sie auch anders als andere Menschen
niemals versucht, vergangene Zeiten zu glorifizieren sondern pflegte immer
wieder zu sagen: „Eine gute alte Zeit hat es nie gegeben“.
In mancherlei Hinsicht war sie moderner als viele jüngere
Menschen, dennoch orientierte sie sich immer an starren Verhaltensregeln, die nicht
hinterfragt werden sollten. Dabei handelte es sich aber keinesfalls an
religiösen Dogmen, da sie bereits konfessionslos war, als dies noch eine ganz
seltene Ausnahme war.
Immer wenn sie mich mit ihren Gemeinplätzen wie etwa „das schickt
sich nicht“, „das tut man nicht“, „das macht man so“ etc. konfrontierte, dürfte
sie mir offenbar zu vermitteln gewollt
haben, dass das eigene Verhalten
tunlichst am Verhalten anderer Menschen auszurichten wäre.
Und auch ihr Tagesablauf war Stunde für Stunde genau
festgelegt. Morgens musste sie immer um 7:00 Uhr aufstehen um pünktlich zu
frühstücken, denn der Magen braucht seine Ordnung. Dieses Ordnungsprinzip kam
auch mit ihrem Wochenprogramm zum Ausdruck. Jeder Nachmittag der Woche war
verplant. Da gab es die Canastarunde, den Kinonachmittag, die Parkhotelrunde
mit ihren italienischsprachigen Freundinnen, eine Kaffeehausrunde mit den
deutschprachigen Freundinnen oder den Besuch im Hause einer anderen Freundin.
Dieses Programm wiederholte sich Woche für Woche mit Ausnahme von einigen
Wochen in den Sommermonaten. Da stand immer ein Kuraufenthalt in Chianciano auf
dem Programm, wo sie sich ausgiebig mit Leuten in ihrer Muttersprache
unterhalten konnte, und im August noch ein weiterer in Bad Schallerbach. Sie
liebte es zwar auch, zu verreisen aber nach dem 75. Geburtstag fühlte sie sich
dazu bereits zu
schwach.
Der Abend gehörte schon damals dem Fernsehgerät, das bis in
die frühen 70er Jahre noch ein
In der zweiten Hälfte der 70er Jahre musste sie zu ihren
Besuchen und Kaffehausrunden gefahren und abgeholt werden, weil ihr der Weg aus
eigener Kraft bereits zu beschwerlich war. Da diese Aufgabe nicht selten mir
zukam, konnte ich auch hautnah miterleben, wie diese einst großen Runden von
Jahr zu Jahr kleiner wurden, bis es zuletzt nur noch drei alte Damen waren. Den
90. Geburtstag konnte sie noch in geistiger Frische bei guter Gesundheit
feiern. Wenige Wochen danach setzte der geistige und körperliche Verfall ein,
der ca. 1 ½ Jahre kontinuierlich fort schritt. Ihr langes Leben endete am 9.
Mai 1981.
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